Sch’ma jisroel

schma_gr

Detail aus der “Spanischen Synagoge” in Prag

Jüdische Musik aus Böhmen und Mähren.

Drei verschieden geartete Kulturen stoßen hier noch immer zusammen, vereinigen und verdichten sich zu einer einzigen, untrennbaren Geistigkeit. Deutsche, tschechische und jüdische Einflüsse wirken gleichzeitig auf den schöpferischen Geist ein und zwingen ihn zu Eingebungen, die er anderwärts nicht finden könnte. Aus dem dreifach gedüngten Boden sprießen Blüten, deren Eigenart sonst nirgendwo zu gedeihen vermöchte. Aus den dreifach durchfluteten Sphären strömt eine Musik, die sich mit keiner anderen verwechseln lässt.

Oskar Wiener über seine Heimatstadt Prag (1919)

Die von Oskar Wiener angesprochene mehrkulturelle Tradition der böhmischen Länder ist für Moravia Cantat schon seit langer Zeit Verpflichtung für die Kulturarbeit. Nach der deutschen Musikkultur und dem tschechischen Anteil des kulturellen Erbes steht nun mit diesem Programm besonders die jüdische Kulturtradition Böhmens und Mährens im Zentrum.

Seit dem 10. Jahrhundert lebten und leben Juden in den böhmischen Ländern. In der von mehreren Kulturen geprägten Tradition Böhmens und Mährens spielte neben der tschechischen und deutschen die jüdische Kultur eine bedeutende Rolle. Prag als Zentrum der böhmischen Juden und Nikolsburg als Zentrum der mährischen Juden waren bedeutsame Stätten jüdischen Lebens, jüdischer Kultur und jüdischer Gelehrsamkeit in Europa. Das nationalsozialistische Deutschland hat diese tausend Jahre alte, reiche jüdische Tradition weitgehend vernichtet. Von knapp 120.000 Juden, die 1939 im Protektorat Böhmen und Mähren lebten, gelang es lediglich etwa 26.000 Menschen auszuwandern, knapp 90.000 Juden wurden in Theresienstadt und den Vernichtungslagern im Osten ermordet. Mit ihrem Programm mit jüdischer Musik aus den böhmischen Ländern will Moravia Cantat (ehemals “Südmährische Sing- und Spielschar Stuttgart”) an die reiche jüdische Kultur von Böhmen und Mähren erinnern.

Im ersten Teil des Programms erklingen Chorwerke, die von jüdischen Kantoren aus Böhmen und Mähren für den synagogalen Gottesdienst komponiert worden sind. Die böhmischen Länder, aufgrund ihrer reichen Musiktradition oft als “Konservatorium Europas” bezeichnet, stellten auch ein großes Reservoir für jüdische Kantoren dar, die (wie viele ihrer nichtjüdischen Musikerkollegen) oft aufgrund der Fülle an musikalischen Talenten eine Wirkungsstätte außerhalb ihrer Heimat finden mussten.

Die Werke dieser jüdischen Kantoren sind zu Unrecht in Vergessenheit geraten – nicht zuletzt aufgrund des Traditionsbruchs, den die Ermordung der europäischen Juden in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft für das Judentum bedeutete.

Den Rahmen des zweiten Teils bilden jiddische Lieder in Chorsätzen von Viktor Ullmann, die der in Auschwitz ermordete Komponist in Theresienstadt geschrieben hat. Nach jüdischen Tanzweisen aus dem “Jüdischen Liederbuch” (Jüdischer Verlag, Berlin 1930), das Ullmanns Vorlage für seine Liedsätze war, hat Widmar Hader “Horra-Nigunim” für Streichensemble komponiert.

Neben der Musik kommt bei diesem Programm aber auch das Wort zur Geltung. Durch die Lesung von Gedichten und kürzerer Prosa-Texte, die den Bezug der jüdischen Religion zum alltäglichen Leben verdeutlichen, entsteht ein anschauliches Bild jüdischen Lebens in Böhmen und Mähren. Ein autobiographischer Text des aus Prag stammenden Historikers Saul Friedländer und Gedichte von Otto Abeles und Hugo Zuckermann umrahmen den esten Teil. Im zweiten Teil dominieren Erinnerungen an das jüdische Leben in Nikolsburg – diese Stadt war zugleich Zentrum der Juden in Mähren und eine der vier südmährischen Kreisstädte.

Nach der Premiere im April 2001 in der Württembergischen Landsynagoge Hechingen hat die Südmährische Sing- und Spielschar Stuttgart (heute Moravia Cantat) ihr Programm mit jüdischer Musik aus den böhmischen Ländern in mehreren Konzerten aufgeführt. Bei einer Singwoche in Zauchtel (Suchdol nad Odrou) im Juni 2001 studierte die Südmährische Sing- und Spielschar weitere synagogale Chorsätze böhmischer und mährischer Kantoren ein – in Zusammenarbeit mit dem tschechischen Mädchenchor Ondrášek aus Neutitschein (Nový Jičín) unter ihrem Leiter Josef Zajíček. Die Früchte der gemeinsamen Arbeit erklangen in Konzerten in Zauchtel, Fulnek und Neutitschein.;

Nach Auftritten in Stuttgart, Augsburg, Geislingen, Weilheim, Hemsbach, Dachau und beim 8. deutsch-tschechischen Symposium der Sudetendeutschen Jugend in Furth im Wald folgten Konzerte auf der Tournee durch Tschechien, Österreich, Ungarn und die Slavakei im Jahre 2002. Den Anfang machte hierbei ein Konzert mit dem tschechischen Frauenchor Adash in Prag. 2003 wurde das Programm schließlich im Rahmen des Ökumenischen Kirchentages in der neuen Synagoge in Berlin aufgeführt.

Das Programm ist 2003 unter dem Titel «Schma Jisroel – jüdische Musik aus Böhmen und Mähren» auf CD erschienen. Die Rezitationen sind von Wolfgang Höper – Staatsschauspieler Stuttgart – gelesen.